Er kam im Schneesturm: Eine Geschichte, nach der Anna nie wieder eine Nacht allein in diesem Haus verbrachte

Draußen tobte ein Schneesturm, so heftig, dass man Himmel und Erde nicht mehr unterscheiden konnte. Schnee fiel in dicken Flocken, der Wind heulte, und die Fensterläden klapperten. Anna saß am Ofen, las ein Buch und legte ab und zu Holzscheite ins Feuer. An solchen Abenden schien die Welt stillzustehen – nur das Knistern des Holzes und der Hauch des Windes waren zu hören.

Als es an der Tür klopfte, zuckte sie zusammen. Das Klopfen war dumpf und eindringlich, als würde jemand mit letzter Kraft dagegenhämmern.

„Wer ist da?“, rief sie, ohne auf die Tür zu treten.

Zuerst Stille. Dann ertönte eine heisere Stimme hinter der Tür:

„Entschuldigen Sie … ich bin mit dem Kind. Das Auto liegt im Graben … Wir haben keine andere Wahl.“

Anna zögerte nur einen Augenblick. Sie half immer. In einem kleinen Dorf ist das Brauch – man lässt einen Nachbarn in Not nie im Stich.

Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit, und ein kühler Atemzug wehte herein. Ein Mann stand im Türrahmen. Groß, breitschultrig, mit ergrauten Schläfen und einem müden Gesicht. Er hielt ein Bündel im Arm. Unter der Decke lag ein Baby.

„Um Gottes Willen, kommen Sie herein“, sagte Anna. „Sie erfrieren noch.“

Der Mann nickte kaum merklich. Er trat ein, schloss vorsichtig die Tür und setzte sich mit dem Baby im Arm an den Ofen.

Eine Nacht im Kerzenschein

Anna setzte den Wasserkocher an und holte die trockene Kleidung ihres Mannes – einen alten Pullover, Wollsocken. Der Gast zog sich wortlos um. Sie legte das Baby auf das Sofa und deckte es mit einer Decke zu.

„Wo ist seine Mutter?“, fragte sie leise.

„Sie … ist nicht hier“, antwortete er kurz angebunden, ohne aufzusehen.

Anna stellte keine weiteren Fragen. Sie wusste, dass es Situationen gab, in die man sich nicht einmischen konnte.

Nach dem Abendessen holte Anna mehr Feuerholz. Der Mann sagte leise:

„Danke. Kaum jemand würde einem Fremden in so einer Nacht die Tür öffnen.“

„Ach, komm schon. Gott hat mir gesagt, ich soll niemanden auf der Straße zurücklassen“, erwiderte sie.

Er nickte und legte das Baby näher an die Wärme. Das Feuer spiegelte sich sanft in seinen Augen, und Anna bemerkte einen seltsamen Ausdruck darin – tief, müde, als blickte er in die Unendlichkeit.

Sie setzte sich auf einen Stuhl und lauschte dem Heulen des Windes draußen. Der Schlaf überkam sie.

Morgen

Anna erwachte in Stille. Der Schneefall hatte aufgehört, und die Sonne schien durchs Fenster. Doch das Haus war kalt.

Niemand war am Ofen. Die Decke, in die das Baby geschlafen hatte, lag leer auf dem Boden. Der Mann und das Baby waren fort.

Zuerst dachte sie, sie seien einfach nur ausgegangen. Doch die Tür war von innen verschlossen, der Riegel noch drin. Die Fenster waren unversehrt.

Anna rannte auf die Veranda. Der Schnee um das Haus war unberührt. Keine Fußspuren, keine Fingerabdrücke, nur ein paar dunkle Flecken nahe der Schwelle, wie gefrorenes Blut.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie ging zurück ins Haus und bemerkte etwas auf dem Tisch. Ein altes, vergilbtes Foto. Es zeigte einen Mann mit einem Baby im Arm. Dasselbe Lächeln. Dieselbe Augenform. Dieselbe Lippenform.

Unter dem Foto stand eine ordentliche Bildunterschrift:

„Getötet bei einem Verkehrsunfall am 3. Januar 1989.“

Anna richtete sich auf. Ihre Hände zitterten. Jemand hatte das Foto offensichtlich erst kürzlich dort hingelegt – es war trocken und sauber, als wäre es gerade erst aus einem Umschlag genommen worden.

Die nächste Nacht

Anna versuchte sich einzureden, dass alles nur Zufall war. Die Müdigkeit und der Schneesturm könnten ihre Erinnerung getrübt haben. Doch als die nächste Nacht anbrach, hörte sie ein Kind weinen.

Erst leise, dann lauter. Sie sprang auf und griff nach der Kerze. Das Weinen kam aus dem Zimmer, in dem das Kind schlief.

Sie öffnete die Tür und erstarrte.

Die Decke lag auf dem Boden. Sie hatte einen kleinen Abdruck, als hätte sich jemand daraufgelegt. Der Geruch von Wachs und Verbranntem lag schwer in der Luft. In der Nähe des Ofens waren nasse Stiefelabdrücke zu sehen.

Und plötzlich hörte man ein Flüstern:

„Danke … dass du uns nicht rausgeschmissen hast …“

Die Kerze erlosch. Das Haus versank in Dunkelheit. Und der Wind pfiff wieder durchs Fenster.

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