Das Geheimnis des Friedhofs: Der Junge, der seinen Vater nie verließ

Der Friedhof lag in Stille. Nur ab und zu rauschte der Wind in den Ästen, und in der Ferne war ein leises Glockengeläut zu hören. Ein Mann stand vor einem frisch geschürten Grab. Seine Finger zitterten, als er über den in den Stein gemeißelten Namen strich: „Valentine – für immer in unseren Herzen.“ Vier Monate waren seit der Beerdigung vergangen, doch der Schmerz war nicht verflogen. Er kam jeden Tag hierher, als könnte die Zeit zurückgedreht werden und das Grab sich öffnen, damit sein Sohn ihm wieder in die Arme laufen könnte.

Da ertönte hinter ihm eine dünne Stimme.

– Herr … seien Sie nicht böse … Gestern hat dieser Junge mit mir Ball gespielt.

Der Mann drehte sich langsam um. Ein kleiner Junge von etwa zehn Jahren stand hinter ihm, in staubigen Schuhen, und umklammerte einen roten Gummiball. Weder Angst noch verspielte Fröhlichkeit spiegelten sich in seinem Gesicht – nur Verwirrung.

– Was haben Sie gerade gesagt?, fragte der Mann leise.

– Dass ich gestern mit diesem Jungen Ball gespielt habe. Im Park, hinter der Kirche. Er war es, er muss es sein – sagte das Kind und deutete mit dem Kopf auf den Grabstein.

Der Mann brachte zuerst kein Wort heraus. Ihm wich das Blut aus dem Gesicht.

– Das ist unmöglich – flüsterte er. – Mein Sohn … er ist seit vier Monaten tot.

Doch der kleine Junge nickte nur, als ob ihn das nicht überraschte.

– Ich weiß, Sir. Aber er sagte, er wolle nach Hause.

Dem Mann sank das Herz. Die kalte Luft wurde plötzlich drückend. Er glaubte nicht an Übernatürliches, er glaubte nicht an Geschichten, aber jetzt wankte etwas in ihm.

– Wo genau haben Sie ihn gesehen? – fragte er.

– Komm, ich zeige es dir – sagte das Kind und ging in Richtung des Waldes am Rande des Friedhofs.

Der Mann zögerte, dann folgte er ihm. Seine Füße fühlten sich schwer an, als würde er mit jedem Schritt in die Vergangenheit versinken. Am Ende des Weges stand eine verlassene Bank, und daneben lag der gleiche rote Ball, den sein Sohn zum Geburtstag bekommen hatte. Der Mann kniete nieder, seine Hände zitterten, als er ihn aufhob. Der Ball war nass, als hätte ihn jemand gerade erst fallen lassen.

„Er war hier“, sagte der kleine Junge. „Er sagte, sein Vater käme jeden Tag zum Friedhof, aber er konnte mich nicht hören, wenn er mit ihm sprach. Er bat mich, ihm auszurichten, dass ihm nichts weh täte und dass er nur wollte, dass sein Vater aufhörte zu weinen.“

Dem Mann traten Tränen in die Augen. Die Qual der vergangenen Monate überkam ihn mit einem Mal. Er brachte kein Wort heraus, er blickte nur auf den Ball, dann auf das Kind.

„Woher wissen Sie, dass er es war?“, fragte er schließlich.

Der kleine Junge lächelte.

„Weil er beim Abschied sagte, sein Name sei Balint.“ Und dass sein Vater jeden Morgen weiße Blumen an sein Grab brachte.

Der Mann konnte es nicht mehr ertragen. Er kniete nieder und ließ endlich seinen Tränen freien Lauf. Nie hätte er gedacht, dass er nach dem Tod den Namen seines Sohnes noch einmal von jemand anderem hören würde – schon gar nicht von einem Kind, das ihn nie gekannt hatte.

Als er aufblickte, war der Junge verschwunden. Nur der Ball war noch da, und daneben lag ein kleiner Zettel mit der kindlichen Handschrift:

„Vater, such nicht weiter. Ich bin hier, wo das Licht beginnt.“

Der Mann saß lange schweigend da. Die Sonne versank langsam hinter dem Hügel, und die Schatten des Waldes fielen auf die Bank. An diesem Tag brachte er zum ersten Mal keine Blumen mehr zum Grab. Er legte nur den roten Ball als letzte Botschaft neben den Stein.

Am nächsten Tag bemerkte der Friedhofswärter überrascht, dass der Ball verschwunden war. Doch neben dem Grab führten winzige Fußspuren in den Wald – Kinderfußspuren, die im Tau begannen und im Nichts endeten.

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